Die Zukunft des Autobauens

Liesse sich die Zukunft der Autoproduktion als Person darstellen, käme wohl Lucía Martínez Villalba heraus. Die junge Maschinenbau-Ingenieurin hat mehr Uni-Diplome als ein Renault Rückspiegel, spricht über «Metaverse» und «Re-Manufacturing» wie wir übers Wetter, versprüht Begeisterung beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) – und ist hier die Chefin: Martínez leitet die Anbauteilemontage. In einem Werk, smart wie Martínez: Sensorik statt Schraubenschlüssel.
«Wir bauen hier 555 Autos am Tag und haben 999 KI-Checkpoints wie diesen», sagt uns Martínez am Band und deutet auf den Monitor und die 3D-Kameras hinter sich, die an dieser Stelle von jedem Auto 112 Fotos schiessen und auf der Suche nach inkorrekten Spaltmassen die KI füttern. Plötzlich wird die Bandbeleuchtung rot: An einem Renault Rafale ist eine Tür nicht ganz exakt eingepasst. Früher hätte das in der Endkontrolle eine Extraschleife verursacht oder wäre gar nie entdeckt worden; wäre es ein Dauerfehler, hätten erst Excel-Sheets viele Wochen und noch mehr Meetings später diese Schwäche entlarvt. Jetzt rast die Meldung ins Plant Connect. Im «Metaverse» hat jedes Teil, jede Schraube, jedes Auto – eine Million Positionen – ein virtuelles Abbild. Die KI reagiert. Und regiert: Sie schlägt Hilfe vor, sagt, durch wen, und stoppt das Band. Eifrige Hände justieren die Tür. Fertig – Band läuft. Die Daten führen dazu, dass die Spaltmasse schrumpfen. «Fehler werden nun sofort erkannt und sofort behoben», erläutert uns Martínez.
Willkommen in Palencia, einem der drei spanischen Renault-Werke. Fun Fact anbei: Spanien liegt heute zwischen Brasilien und Thailand auf Platz neun der Autohersteller-Nationen. Nur zum Vergleich: Italien Platz 22. Von allen Renaults kommen 14 Prozent von hier, etwa Captur, Espace oder Megane. Damit dieser Erfolg bleibt, hat die Renault-Gruppe (Alpine, Dacia, Renault) 780 Millionen Euro investiert, um alle Werke zu digitalisieren und zu vernetzen: Plant Connect. Aber wozu? Um nicht von China überfahren zu werden. «Wir müssen uns schnell bewegen, es ist ein kompetitiver Markt», sagt José-Martin Vega, der Industrial Manager von Renault Spanien. Und räumt offen ein: «Wir haben viel von den chinesischen Wettbewerbern gelernt und arbeiten sehr intensiv an der Qualität, sie ist das Haupt-Kaufkriterium.» Neu seien all die 3D-Cams oder die KI nicht: In China sei es Standard. Neu sei, dass alle Werke vernetzt sind, um mit Echtzeitdaten sofort reagieren oder Probleme vorhersehen zu können. Ein Renault-Manager sagt uns unter der Hand: «Wenn wir das nicht könnten, wären wir in einem Jahrzehnt vielleicht gar nicht mehr da.»
Tatsächlich erschlägt uns fast, was Sensorik plus KI alles vermag. Sensoren sind eben nie müde oder abgelenkt. Und was kein Mensch sehen oder hören kann, wird ebenfalls mit aufgespürt: Im Türschliesstest der Endkontrolle hört ein KI-Mikro zu. Warum? Kein Ohr hört den winzigen losen Plastikclip in der Tür, der später erst den Kunden und dann die Garage auf Fehlersuche leise in den Wahnsinn scheppert – aber Mikro plus KI schon. Kein Auge sieht, ob der Steckerkupplung, die in der Produktion sonst gleich hinter der Armaturentafel verschwinden würde, nicht doch ein Millimeter zum kompletten Einrasten fehlt; und sie sich also 20000 Kilometer später deswegen löst. Doch der Sensor sieht es. Selbst die Radbolzen-Roboter werden gescannt: Fehlt da eine halbe Drehung?
Was diese überwiegend inhouse von Ingenieuren entwickelten Tools bringen? Die Garantiefälle sind seither um 50 Prozent zurückgegangen, die Produktionskosten sollen bis 2027 um 30 Prozent, für E-Autos um 50 Prozent, Energiekosten um ein Drittel sinken. Nach zehn Stunden ist ein R5 fertig, Ziel sind acht Stunden. Die Konkurrenz? 15 bis 25 Stunden. Wie das geht? Zum Beispiel auch, indem Renault als erster Volumenhersteller ein neues Lackierverfahren eingeführt hat. Zuvor hiess ein Zweifarblack: erster Lack, trocknen, abdecken, zweiter Lack, trocknen. Das dauerte Stunden. Am R4 und Dacia Duster erledigt Bicolor das Jetprint Paint: Die Lackierroboter tragen zwei Farben millimeterexakt und in einem Rutsch auf – in sechs Minuten. Und Kollege Computer und KI helfen, Entwicklung und Kosten zu verschlanken. Ein neues Modell dauert nun zwei statt vier Jahre. Ein Megane hat 1080 Teile, ein R5 nurmehr 825 und der 2026er Twingo nur 650 Teile.
Allerdings sind all das nur Anekdoten des grossen Ganzen. Wir besuchen den Kontrollraum von Plant Connect, der Werksvernetzung – fast eine Art Raumschiff-Enterprise-Kommandobrücke. Auf einen Blick sind hier alle 25 Renault-Werke zu sehen. Fünf Milliarden Datensätze am Tag! Liegt Werk X im Plan? Liefert Werk Y pünktlich? Fehlt Werk Z für morgen noch eine rote Dekorleiste für einen Rafale? Wie viele Austral wurden heute in der Schweiz bestellt und wann braucht es darum wo welche Teile? Wo steht ein Renault wie lange zu welcher Reparatur in der Garage – gab es da einen gehäuften Fehler in der Produktion? Früher musste die Teppichetage all das erst sammeln und studieren. Heute greifen alle Kaderkräfte direkt zu – in Echtzeit. «Wir sind jetzt um 20 Prozent pünktlicher mit der Auslieferung», sagt Eric Marchiol, Senior Industry & Quality Digital Officer. Zehn Tage von Händlerorder bis zum Auto beim Händler laute das Ziel. Heisst Qualität und Zuverlässigkeit nicht ironischerweise, dass Garagen weniger zu reparieren haben? Marchiol sagt: «Ein unzuverlässiges Auto von minderer Qualität würde ja gar nicht erst gekauft.»
Thierry Charvet, Produktionsvorstand der Renault Group, klickt sich durch die Daten der Werke um den Globus. Bei einem sind die Balken gelb und rot statt grün – Vorführeffekt. «Das müssen Sie jetzt nicht unbedingt fotografieren», sagt Charvet schmunzelnd. Real Life in Realtime quasi. Früher hätte es wohl Tage oder Wochen gedauert, ehe Charvet es erfährt und eingreifen kann. Beim Gang zurück sind wir, noch aufgewachsen mit Mechanik, dann fast erschlagen von der Digitalisierungs-Offensive, derweil im Hintergrund 600 autonome Transportkarren durch die Werkshalle von Palencia summen. Was, bitte, kommt da als Nächstes – die Mensch-Maschine-Verschmelzung? «Wir arbeiten übrigens mit Wandercraft an Exoskeletten, die Mitarbeitenden das Heben schwerer Lasten vereinfachen», verrät uns Charvet. Roboter zum Anziehen wie im Science-Fiction-Film. Unglaublich. Doch für Lucía Martínez Villalba vermutlich ganz normal.