«Ich will Praxiswissen weitergeben»
Ironischerweise begegnen wir der Zukunft des Autogewerbes an diesem Morgen zuerst im ÖV. Die Linie 7 der Stadtbus Winterthur ZH beseitigt jeden Zweifel, ob die Branche attraktiv für junge Leute ist: Rappelvoll ist der Gelenkbus mit Lernenden, die wie wir gerade an die Schweizerische Technische Fachschule Winterthur (STFW) streben – und die sich unterwegs auf Smartphones Autovideos zeigen, über ihre Chefs debattieren oder über U-Nummern auf Fahrten ins Ausland. «Schau’ beim AGVS, die hatten was dazu», rät, dankeschön, einer der angehenden Fachleute.
Allein an diesem Tag finden an der STFW mehr als ein Dutzend überbetriebliche Kurse (üK) des Autogewerbes statt. «Wenig Theorie-Blabla. Viel Praxis-Aha!», wirbt die STFW, an der jährlich 10000 Menschen Kompetenzen erlernen oder vertiefen, auf ihrer Homepage. Dazu zählt vor allem auch: Die Kursleitenden sind Fachleute aus der Praxis. Unser Ziel nach der Ankunft: Raum M230. Dort läuft der «üK 3 – Detailhandelsfachmann/-frau EFZ Automobil Sales», also einer von vier üK-Tagen im dritten Lehrjahr. Die Lehrperson ist ein Mann mit reichlich Praxiserfahrung und einer wichtigen Funktion im Autogewerbe: Christian Wyssmann (43), AGVS-Geschäftsführer.
«Ich will damit etwas zurück- und Praxiswissen weitergeben. Diese jungen Menschen sind die Zukunft unserer Branche», sagt der sich als Experte engagierende Wyssmann und fügt lachend an: «Ausserdem macht es Spass.» Bereits zuvor, als Geschäftsführer der Emil Frey AG in Zuchwil SO, war Wyssmann in den üK engagiert. «Entstanden ist das vor zweieinhalb Jahren Die STFW war mir bereits ein Begriff, ich wollte mich noch stärker in die Nachwuchsförderung einbringen und war mit Olivier Maeder, AGVS-Geschäftsleiter Bildung, in Kontakt.» Ist das keine zeitliche Challenge wegen des Jobs in Bern oder der Fahrt von seinem Wohnort Lyss BE nach Winterthur? «Andere machen das täglich», sagt Wyssmann schulterzuckend, «und auch unsere Lernenden aus der ganzen Deutschschweiz kommen schliesslich für vier Tage pro Lehrjahr hierher.» Zudem seien seine zweimal (üK 2 und üK 3, also 2. bzw. 3. Lehrjahr) vier Tage im Jahr ungeheuer wertvoll nicht nur für die Lernenden, sondern auch die Verbandsarbeit. «Die enge Zusammenarbeit mit der STFW und nahe an der Basis zu sein, ist für uns als Träger der Aus- und Weiterbildung enorm wichtig. Bei dieser 2022 reformierten Ausbildung ganz besonders. Hier erfahren wir, woran wir noch arbeiten müssen, und wir sehen in dieser Grundbildung sehr viel Potenzial und hoffen, dass in Zukunft noch mehr Garagen sie anbieten. Die üK sind dabei so wichtig, weil die Gewerbeschulen schlicht nicht den Branchenfokus haben: Es ist eben ein enormer Unterschied, ob man Gipfeli oder Autos verkauft.»
Die Feedbacks kommen von Lernenden wie zum Beispiel Yara Italia Frick. Die 19-Jährige lernt beim AGVS-Mitglied René Hächler AG in Obfelden ZH, ist hier und heute eine von zehn am üK teilnehmenden Lernenden im Alter von etwa 16 bis 20 Jahren und fällt uns auf, weil sie auf fast jede Frage eine kluge Antwort parat hat. In einer Fragerunde zum Kursbeginn sagt Yara, dass sie «diese Ausbildung jederzeit wieder wählen würde.» Yara berichtet: «Am Anfang durfte ich – was normal ist – nicht viel verkaufen und konnte auch nicht so gut auf die Kundinnen und Kunden zugehen oder mit schwierigen Situationen umgehen. Aber das lernst du. Das hat mich auch persönlich verändert und charakterliche Stärken aufgebaut. Heute darf ich sehr selbständig arbeiten, das gefällt mir. Selbständig zu werden und zu sein, das bringt dich im Leben immer weiter, ob beruflich oder privat.» Yara formuliert quasi druckreif. Wieso? «Auch das hat damit zu tun», sagt sie schmunzelnd, «ich spreche heute viel mehr und bin viel offener. Und heute weiss ich, wovon ich spreche.» In ihrem Betrieb kommt Yara ganz besonders zum Zug, wenn es um die junge Generation als Kundinnen und Kunden geht. «Wir sind zwar ein junges Team, aber ich bin eben nochmals jünger», sagt sie, «und mit Social Media aufgewachsen. Deshalb betreue ich unseren Instagram-Account, der seitdem auch mehr Aufrufe hat.» Andere Lernende berichten in der Fragerunde von Tiefen und Höhen: «Leider darf ich noch immer nicht viel machen im Betrieb, das ist enttäuschend», sagt einer, ein anderer «bei mir ist alles tipptopp, nur die Arbeitszeiten sind manchmal heavy.» Ein dritter betont: «Anfangs habe ich mich alleingelassen gefühlt, jetzt macht es Spass.» Unüberhörbar bei allen: je mehr Verantwortung, desto erfüllender der Job.
Locker und trotzdem stets ernsthaft geht es anschliessend ans Thema, beginnend mit einem Quiz. Alle sind per du, der AGVS-Geschäftsführer ist einfach der Christian und hilft auch mal einem Lernenden mit einem Ladekabel für den Laptop aus. «In den ersten zwei Jahren ging es um das Basiswissen, von ADAS über Ladeinfrastruktur bis Leasing», erläutert Wyssmann das Tagesprogramm. «Heute gehen wir in die Tiefe des Marketings, zum Beispiel im Kunden- und Verkaufsgespräch, Gestalten von Erlebniswelten sowie Events und Verkaufspromotionen.» An diesem Vormittag stehen auch mehrere Gruppenarbeiten an. Schön zu beobachten: Wyssmann lässt den jungen Leuten auch mal kleine Fluchten und Albernheiten, scherzt mit, holt sie aber dann mit persönlicher Ansprache und herausfordernden Fragen wieder ins Thema zurück.
Zwischendurch vermittelt der AGVS-Geschäftsführer, selbst jahrelang im Verkauf und ein Jahr lang Verkaufsleiter, immer wieder Branchenwissen im Detail. Ein Beispiel: Er geht auf neue Marken wie BYD oder Autohandelsgruppen («Kennt jemand von euch Hedin?») oder auf die Cotra und Galliker als Logistikpartner ein. Und trägt nicht nur vor, sondern debattiert und hört zu. Als es um Marketing geht, hängt er ein Thema an einem Red Bull «Winter Edition» auf dem Tisch eines Lernenden auf oder den USP («Unique selling proposition») an etwas, das alle kennen: den Nespresso-Kapseln. «Anfangs war der Kapselkaffee der USP», so Wyssmann, «heute ist es das Premium-Erlebnis, weil viele Kapseln anbieten. Bei Autos wird es immer schwieriger mit dem USP – ein digitaler Innenspiegel reicht da nicht mehr zur Differenzierung. Umso wichtiger wird das Markenimage.»
Später geht es zum Beispiel um Verkaufsförderung. «Die Idee ist, Verkäufe kurzfristig anzukurbeln und vor allem zu steuern – doch für die kurzfristige Wirkung braucht ihr langfristige Planung», so Wyssmann. Die Lernenden machen Vorschläge. Einer schlägt rabattierte Winterräder vor – samt Einlagerung, falls man sofort unterschreibt. «Rädereinlagerung ist ein gutes Kundenbindungs-Instrument», so Wyssmann. «Aber ich glaube nicht, dass es dir hier einen Vertragsabschluss bringt: Verkaufsförderung soll zwar Begehrlichkeiten wecken, darf aber nie unter Druck setzen.»
Einer dieser vielen kleinen Aha-Momente für den Nachwuchs, aus der Praxis und für die Praxis. Am Ende fragen wir nochmals bei Yara nach: Wie findet sie die üK-Tage? «Genau so und nicht anders muss der üK sein», befindet Yara, «denn in der Schule fehlt der Bezug zum Autogewerbe.» Zudem komme sie an der STFW mit anderen Lernenden aus der Branche in Kontakt, was wertvoll sei. Ehe es an eine Gruppenarbeit (Erstellung eines Konzepts für eine Frühlingsausstellung mit «Ausgangslage, Zielgruppe, Ziele, Massnahmen, Budget und Kontrolle») geht, verabschieden wir uns. Am nächsten üK-Tag ging es für die Lernenden dann um Fahrzeugpräsentation, Zusatzverkäufe, Social Media und Online-Plattformen. Und was passiert am üK-Tag im Januar? «Da geht es in einen Showroom», sagt Wyssmann. Praxisnah für unsere Zukunft.
Hier geht es zur Grundbildung Detailhandelsfachmann/-frau EFZ Automobil Sales.